Ein Herdenschutzhund durchläuft im Laufe seines Lebens gewöhnlich sechs Phasen der Entwicklung. Am Ende dieses Prozesses steht ein ausgebildeter "Beschützer der Herden". Seine
Präsenz in den Herden ist seit Jahrhunderten ein Garant für die Sicherheit und Unversehrtheit von Weidetieren in Gebieten, die sich der Mensch mit den großen Beutegreifern Bär, Luchs und Wolf
teilen muss. Aber auch gegen wildernde Hunde, eindringende Menschen, gegen Wildschweine und anderes Wild, das die Weidezäune beschädigt, wirkt er zuverlässig.
Das Wesen und die Ehrlichkeit, die Robustheit und Wetterfestigkeit der Tiere sind Grund-voraussetzung für einen gut funktionierenden Herdenschutzhund. An ihn werden hohe Anforderungen
gestellt: Einerseits entscheidet ein HSH allein oder im Team selbstständig, wie er den Schutz der ihm anvertrauten Schafe, Ziegen usw. sicherstellt. Andererseits wird von ihm verlangt, sich
außerhalb seines "Jobs" wie ein gewöhnlicher Hund zu verhalten, er soll gehorsam und leinenführig sein und darf keine Auffälligkeiten gegenüber anderen Hunden zeigen.
Der fachgerechten Begleitung während der einzelnen Entwichlungsphasen kommt daher eine enorme Bedeutung zu, denn Ziel ist es, einen Hund zu züchten, der freundlich zu freundlichen
Lebewesen ist, aber auch als imposanter, reaktionsschnell abwehrender Schutzhund auftreten kann.
Der Einsatz von Herdenschutzhunden als wirkungsvolle Maßnahme der Abwehr von Beutegreifern gewinnt deutschlandweit an Bedeutung. In einigen Bundesländern gibt es Projekte, bei denen Herdenschutzhunde (HSH) verschiedener Rassen wieder in Schafs-und Ziegenherden eingesetzt werden. Dabei sollen Erfahrungswerte gewonnen werden, unter welchen Bedingungen Herdenschutzhunde optimalen Schutz der Weidetiere gewähren können.
Um die hohen Anforderungen, die an die "Wächter der Herden" gestellt werden erfüllen zu können, kommen grundsätzlich nur Hunde in die engere Auswahl, die nachweislich aus Arbeitslinien stammen. Stoische Gelassenheit, ein Phlegma in Alltagssituationen und eine Gleichgültigkeit gegenüber unbedeuteten Reizen gehen bei Herdenschutzhunden mit dem auf höchstem Niveau entwickelten Schutztieb eine typische Kombination ein, die in dieser markanten Form bei keinem anderen Hundetyp anzutreffen ist. Die Anlagen des territorialen Verhaltens sind bei allen Abkömmlinge des Wolfes ohne jeden Zweifel genetisch fest verankert.
Rund zwei Jahre braucht es vom Welpen bis zum voll funktionsfähigen Herdenschutzhund. Der HSH ist in erster Linie ein Territoriumswächter, relevante Lernvorgänge stehen im Kontext mit der Gewöhnung an seinen Lebensraum. Die Hunde lernen dabei die Herde, die Menschen ihrer unmittelbaren Umgebung und ihre Rudelmitglieder als Bestandteil ihres Lebensraumes anzunehmen. Dabei prägt sich dem Hund das Geruchsbild der Herde ein und vermittelt ihm auf Lebenszeit, dass der Geruchsträger zu seinem Lebensumfeld gehört und keine Gefahr darstellt. Gleichzeitig lernt er, dass Tiere mit "Herdengeruch" keine Beute sind, nicht gejagt und schon garnicht gerissen werden dürfen. Weitere Lernvorgänge beziehen sich auf den Umgang mit Menschen. Durch ständigen Kontakt mit dem Schäfer und seiner Familie lernen die Hunde, ein Vertrauensverhältnis zu bestimmten Menschen zu entwickeln und sie als Sozial-und Kommunikationspartner anzunehmen. In vielen Gebieten ist nicht auszuschließen, dass Bauern,Spaziergänger oder Touristen in die Nähe einer bewachten Herde kommen. Dort muss gewährleistet sein, dass die Hunde nicht Unschuldigen Schaden zufügen. Deshalb ist es existentiell, dass der HSH unter allen Umständen den sein Territorium umgegbenden Zaun, gleich welcher Bauart, als unüberwindbares Hindernis respektiert.
Die Natur hat aus guten Gründen für diesen Hundetypen eine überdurchschnittlich lange Lernphase vorgesehen. Herdenschutzhunde lernen Technik und Taktik von ihren älteren Rudelmitgliedern. Eine gut funktioniende Herdenschutzhundgruppe zeichnet sich dadurch aus, dass alle Mitglieder nicht nur einen identischen Erfahrungsschatz besitzen, sondern darüber hinaus gelernt haben, arbeitsteilig zu Werke zu gehen. Eine Teilung der Aufgaben kann jedoch nur erfolgen, wenn alle Rudelmitglieder unbewusst einem gemeinsamen Plan und identische Ziele verfolgen. Das gegenseitige Warnen und Helfen sowie die Koordination von Abhwehrmaßnahmen sind elementare Voraussetzungen für ein homogenes Herdenschutzhundrudel und bestimmen über Erfolg oder Misserfolg der Arbeit. Um eine schlagkräftige HSH-Gruppe zu schaffen, ist es wichtig, dass die Tiere aus gleichen oder zumindest ähnlichen Lebensräumen stammen. Kommt ein Teil der Gruppe aus dem Hochgebirge, der Rest jedoch aus dem Flachland sind Fehlschläge vorprogrammiert, da die charakteristischen Eigenschaften der Einsatzgebiete völlig unterschiedlich sind.
Die Entscheidung für oder gegen eine Rasse ist eine sehr komplexe Problemstellung, zu deren Lösung es einer sorgfältige Vorarbeit bedarf. Kriterien wie Topographie und Art der Beutegreifer des Einsatzgebietes spielt ebenso eine Rolle, wie klimatische Bedingungen, die Bevölkerungsdichte und das zu erwartende Bedrohungspotential im Bereich der zu schützenden Herden. Gefragt ist für jeden Fall eine individuell angepasste Lösung.
(Herdenschutzhunde 2. Auflage 2012, S.333-338 , Thomas Achim Schoke)
Hütehunde sind sehr bewegliche, lauffreudige Hunde deren Aufgabe das Treiben und Zusammenhalten von Weidetieren ist. Sie sind weder körperlich noch wesensbedingt zur Verteidigung von Nutztierherden geeignet.
Herdenschutzhunde nehmen keine Hütefunktion wahr, es gehört nicht zu ihren Aufgaben. Sie sind größer, schwerer und kräftiger als Hütehunde, teilen aber deren Beweglichkeit und Bewegungsfreude nicht. Stoische Gelassenheit, ein gewisses Phlegma im Alltag und eine Gleichgültigkeit gegenüber unbedeutenden Reizen kombiniert mit dem auf höchstem Niveau entwickelten Schutztrieb machen das Wesen dieser Gebrauchshunde aus. Kraft und Größe der Herdenschutzhunde haben sich über unzählige Generationen so entwickelt, dass sie ihren Gegnern mindestens ebenbürtig sind.
Der Herdenschutzhund ist weder ein undifferenzierter Menschenfreund, noch steht er fremden Menschen auf neutralem Territorium grundsätzlich feindselig gegenüber. Zu Fremden und in ungewohnten Situationen verhalten sich die Hunde abwartend, zurückhaltend und misstrauisch. Das Schutzverhalten eines Herdenschutzhundes ist primär ein Schutz seines Territoriums. Er ist also ein hoch spezialisierter Territoriumswächter, der jedes Eindringen von ihm unbekannter Menschen oder Tieren in das von ihm besetzte Revier zu verhindern sucht. Wer sich bei Kontakt mit einem Herdenschutzhund grundsätzlich ruhig und zurückhaltend, keinesfalls forsch, hektisch oder aufgeregt verhält und nicht ohne den Besitzer die umzäunte Fläche betritt, wird keine Probleme mit diesen Tieren haben.
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